„Das ganze Leben auf den Kopf gestellt”
Eine Betroffene berichtet über ihren Umgang mit einer Hypophysenerkrankung
Ich habe 20 Jahre als Krankenschwester gearbeitet, bis ich 1996 krankheitsbedingt, aufgrund von Bandscheibenvorfällen, eine Umschulung zur Sozialversicherungsfachangestellten absolviert habe. In diesem Beruf war ich zwei Jahre im Kundenservice tätig.
Ich war zufrieden und es hat Spaß gemacht. Dann bekam ich Kopfschmerzen, habe es auf die Bildschirmarbeit geschoben und darauf, dass ich eine neue Brille brauche. Zu meinem "Glück" habe ich einen guten Augenarzt, der auch mein Gesichtsfeld kontrolliert. Dabei fiel auf, dass mein Gesichtsfeld zu den Seiten und auch oben und unten eingeschränkt war und ist.
Nun denn, es kam, wie es kommen sollte: eine Magnetresonanztomographie als bildgebendes Verfahren des Kopfes. Ich bin auch da ohne große Befürchtungen hingegangen – vielleicht war das etwas naiv.
Erschütternde Diagnose
Als sich herausstellte, dass ich einen relativ großen Hypophysentumor hatte, der die Sehnerven einengte, und daraufhin weiter an eine Uniklinik verwiesen wurde, hatte ich das alles noch gar nicht für mich realisiert.
Ich, einen Hirntumor, eventuell bösartig??? Das konnte doch nicht sein!! Real wurde es erst für mich, als ich auf der neurologischen Station saß, auf ein Bett wartete und meine Sachen in einem Schrank verschlossen wurden. Mein Mann stand mir bei allen Untersuchungen zur Seite, hat meine Hand gehalten und mir zugesprochen. Natürlich gingen alle Gedanken in Richtung unserer Kinder und unserer Existenz. Sehr beschäftigte uns die Frage, ob ich wieder gesund werde. Was, wenn der Tumor bösartig ist? Kommt es zu Chemotherapie, Bestrahlung und, und, und ... ?
Die Gedanken kreisten, ließen sich nicht aufhalten. Und die Tränen liefen! All dies passierte in einigen Tagen. Ich war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Das war kurz vor Weihnachten 2001.
Und ehe ich mich versah, war ich im OP-Saal. Die darauffolgenden Tage sind mir nicht mehr bewusst.
Nach der OP
Ich wurde wach. Jede Menge Ärzte ... Mein erster Satz war: „Ich kann kaum noch etwas sehen!"
Natürlich wurde ich vor der OP über die Risiken aufgeklärt. Aber ich war so in meiner Gedankenwelt gefangen, dass ich die Informationen nicht erfassen und nicht verstehen konnte. Alles fühlte sich irreal an.
Der Tumor wurde per Schädelöffnung entfernt. Es bildete sich eine Zyste, Flüssigkeit lief mir aus der Nase. Eine Drainage, also eine Ableitung wurde gelegt. Was eben alles passieren kann ...
Hätte ich in dieser Zeit meine Familie nicht gehabt, das nette Pflegepersonal und kompetente Ärzte – ich glaube, ich wäre völlig verzweifelt. Meine ganze Stärke, mein Lebenswille, nichts war mehr da.
Der Tumor war glücklicherweise gutartig. Ich durfte wieder aufstehen. Sehr langsam ging es bergauf. Untersuchungen in der Augenklinik gaben mir Hoffnung, dass sich die Sehnerven erholen würden.
Es folgten die üblichen Tests und Untersuchungen. Mir war immer noch nicht klar, welche Folgen diese Hypophysenerkrankung für mich haben würde. Ich habe den sogenannten Tunnelblick – und das auch noch als absolute Leseratte, die nervös wird, wenn der ungelesene Bücherstapel zu klein ist. Außerdem habe ich eine vollständige Hypophysenvorderlappeninsuffizienz und es entwickelte sich eine ausgewachsene Niedergeschlagenheit, Depression.
Ich habe diese Zeit überstanden. Auch, weil meine Familie und meine Freunde immer für mich da waren und es noch immer sind. Sie haben mir zugehört, mir Trost gespendet, mich zusammengestaucht wenn es nötig war und mich ins Leben zurückgeführt. Geholfen haben mir auch stille Minuten in einer leeren Kirche, im Zwiegespräch mit Gott.
Ein neues Leben
Ich habe mir an Informationen geholt, bestellt und gesucht, was ich kriegen konnte. Langsam wurde mir klar – mein Körper hat es mir deutlich gezeigt –, wo meine Grenzen sind, was ich mir zumuten kann und was ich besser bleiben lasse.
Diese Erkrankung hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Erwerbsunfähig und schwerbehindert, ich fühlte mich als eine hilflose Person. Zuerst habe ich versucht so weiterzuleben wie vorher.
Doch zu oft musste ich einsehen, dass ich mit vielem heillos überfordert war. Die Ersatztherapie der Hormone funktionierte einigermaßen gut. Schwierigkeiten bereitete mir die Dosierung des Cortisons.
Bei der Cortisoneinstellung kann niemand wirklich helfen, denn nur ich fühle meinen Körper. Der Cortisonpass gibt Auskunft darüber, wie in welchen Situationen verfahren werden soll. Aber jeder reagiert anders:
- auf psychische Belastungen (die von den Ärzten leider sehr oft unterschätzt werden)
- auf körperliche Anstrengungen etc.
Es hat mindestens sechs Jahre gedauert, bis ich einigermaßen mit meinem Leben und dem Alltag zurechtkam. Manchmal passiert es mir heute noch, dass ich in Krisensituationen vergesse, das Cortison zu erhöhen. Unglaublich, weil es überlebenswichtig ist, aber wahr.
Meine Strategie bestand und besteht auch heute noch darin: Ich muss es versuchen. Aufgegeben habe ich sämtliche abendliche Vergnügungen wie Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, Partys. Also alle Veranstaltungen, die abends stattfinden. Feiern sind mir zu laut, Lärm ist für mich unerträglich geworden. Leider zählen auch Yogakurse dazu. Alles, was abends anstrengt ...
Alkohol trinke ich keinen mehr. Meine Leber muss schon mit vielen Pillen fertig werden. Dazu möchte ich anmerken, dass dieses "nicht Trinken" fast immer auf Unverständnis stößt. Gehe ich abends dann doch mal aus, bin ich gezwungen, meine Cortisondosis zu erhöhen. Dann kann ich den Abend genießen, bezahle leider trotzdem mit einer schlechten Nacht, weil mein Körper und mein Geist nicht zur Ruhe kommen wollen. Auch der folgende Tag ist nicht erquickend.
Nun mag mancher denken: Welch einsames Leben. Sicher habe ich schlechte Erfahrungen gemacht, kenne diese nur scheinbar anteilnehmenden Fragen – etwa "Wie geht es dir denn?", wobei dann sofort weitergeredet wird, und es gar nicht interessiert, wie es mir geht. Doch auf dem Weg lernte ich echte Freunde sehr zu schätzen und erkannte sehr schnell, wer wirklich Freund ist.
Über das Netzwerk Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen lernte ich z. B. jemanden kennen, die mir sehr viel bedeutet. Gleichgesinnte ... Gleiche Krankengeschichte, gleiches Schicksal. Wir können über wirklich alles reden, was uns bewegt, und verstehen uns ohne viele Worte, können einander nachfühlen.
Neue Hobbies habe ich mir zugelegt:
- Ich gehe sehr viel raus, sobald das Wetter es zulässt.
- Ich liebe die Natur, die Pflanzen, Steine, den Wald, das Meer.
Um es nicht zu anstrengend zu gestalten, habe ich mir einen Schrittzähler zugelegt, sodass ich weiß, wann Schluss ist.
Zuerst habe ich mich nicht getraut alleine unterwegs zu sein. Meine Gedanken kreisten ständig um Situationen, in die ich geraten könnte. Ich habe mir ausgemalt, was mir und auch meinen Mitmenschen passieren könnte ... Die Angst hatte mich voll im Griff. Aber ich habe nicht aufgegeben, mir Mut gemacht und es „einfach” versucht.
Ich würde sehr gern in einer Walking-Gruppe mitmachen, aber auf mich ist kein Verlass. Denn geht es mir nicht gut, muss ich absagen! Häufiges Absagen ist nicht angenehm und auch hier herrscht oft wenig Verständnis mir gegenüber. Ich kann einfach nicht sagen: „Morgen laufen wir!” Dazu muss ich abwarten, wie es mir morgen geht. Meine Familie und meine Freunde haben sich darauf eingestellt, zu meinem großes Glück.
Lösungsansätze
So sieht also meine Strategie aus:
Jeden Morgen horche ich in mich hinein und frage mich: „Wie fühle ich mich, wie geht es mir ...? Schaffe ich das, was ich heute machen möchte, was ich mir vorgenommen habe?” Ich führe ein sehr diszipliniertes Leben. Dazu gehören meine „Pillenzeiten”, meine „Haushaltszeiten”, die Uhr immer im Kopf, um mir meine Aufgaben einzuteilen. Stets frage ich mich: „Schaffe ich das?” Wenn es nicht geht, wird die Aufgabe auf zwei oder drei Tage verteilt.
Ein reichlich schwieriger Lernprozess, der andauert und Akzeptanz erzwingt. Es geht nicht mehr so, wie es ging, als ich gesund war.
Für mich steht fest: Spontanität bekommt mir nicht, und so muss ich dementsprechend handeln. Ich lese wieder mehr. Manchmal nur ein paar Seiten, manchmal mehrere Kapitel. Leider haben sich meine Sehnerven nicht erholt, sodass ich zu Hause oder auch, wenn ich laufe, schon einige Unfälle hatte. Daher meide ich Menschenansammlungen. Manch ein Zeitgenosse kann sehr unwirsch reagieren. Ein Beispiel aus früher Vergangenheit:
Mein Mann und ich fuhren mit dem PKW einkaufen und es war wirklich nur noch der Behindertenparkplatz frei (– den wir auch wirklich nur nutzen, wenn alle anderen Parkplätze besetzt sind). Da ich auf Begleitung angewiesen bin, habe ich einen solchen Parkausweis. Als wir das Auto verließen, beschimpfte uns ein Herr aufs Gemeinste und rief die Polizei. Man sieht ja nicht, dass ich schwerbehindert bin, ich habe weder ein Bein verloren noch sitze ich im Rollstuhl ... Mit solchen Situationen kann ich überhaupt nicht umgehen. Ich war nicht darauf eingestellt, nicht darauf vorbereitet, kann nicht reagieren und fühle mich wie erstarrt. Ich breche innerlich zusammen, bin völlig überfordert und auch sehr verletzt. In derartigen Fällen bin ich so unsagbar dankbar, dass mein Mann an meiner Seite ist und angemessen reagieren kann. Ich muss akzeptieren, dass ich auf Hilfe angewiesen bin.
Meine Familie ist mir gegenüber sehr verständnisvoll und auch dafür bin ich unsagbar dankbar. Ich liebe sie und sie lieben mich, wie ich bin. Natürlich wird mir auch mal offen die Meinung gesagt.
Meine chronische Erkrankung hat uns sehr eng zusammengeschweißt und ich muss und möchte lernen, mich wieder zu lieben und anzunehmen, so wie meine Familie es getan hat. Ich glaube, jeder muss für sich einen Weg suchen und finden, um mit dieser Erkrankung zu leben. Ich kann eigentlich nur erzählen, wie es mir ergangen ist und noch ergeht.
Zum Schluss möchte ich noch anmerken, dass ich diese Hypophysenerkrankung nicht im eigentlichen Sinne bewältigen kann. Ich versuche sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben, um zu leben!