„Eine unerhörte Frau” im Interview
Angelika Nachtmann schrieb über die Erfahrungen, die sie mit ihrer unter einem Kraniopharyngeom leidenden Tochter machte, das Buch „Eine unerhörte Frau”, früherer Titel „Nicht gehört, fast zerstört” (siehe auch GLANDULA Nr. 43, S. 15). Mittlerweile wurde es von dem renommierten Regisseur Hans Steinbichler ("Hierankl", "Das Tagebuch der Anne Frank") verfilmt. Der Film lief im Kino, war mittlerweile auch im Fernsehen auf arte zu sehen und ist außerdem auf DVD erhältlich. Wir interviewten die Autorin.
GLANDULA: Fassen Sie doch bitte die Geschichte rund um die Erkrankung Ihrer Tochter für alle, die Film und Buch noch nicht kennen, kurz zusammen.
Angelika Nachtmann: Nach sieben Jahren Fehldiagnose wurde bei meiner Tochter Katharina der Tumor entdeckt. Das waren sieben Jahre Hölle für uns beide. Keiner hat uns geglaubt. Alle redeten von Einbildung, Simulation oder psychischen Störungen. Sie müssen sich das vorstellen: Sie hören im Flur wie sich drei Ärztinnen unterhalten: „Jetzt kommt die wahnsinnige Nachtmann wieder mit ihrem psychisch labilen Kind. Wer nimmt sie denn heute? Ich habe keinen Bock.” Das war brutal.
Die Tante einer Bekannten ist Medizinprofessorin. Ihr ist dann, nachdem wir endlich die korrekte Diagnose hatten, sofort ein Neurochirurg eingefallen. „Wenn es jemand machen kann, dann nur der.” Ich habe das dann gleich am nächsten Tag unserer behandelnden Endokrinologin gesagt. Sie hat gemeint: „Ja, Frau Nachtmann, das habe ich auch schon in Erwägung gezogen.
Aber er operiert in Boston, Buenos Aires und Erlangen und nicht hier in München.” Das war also nicht in New York, wie im Film dargestellt. Es war allerdings tatsächlich der Gedanke da, nach Boston zu fliegen. Das war dann aber doch nicht notwendig. Ich habe ihn aber tatsächlich so angefleht, wie es im Film gezeigt wurde.
Vor der Operation hieß es, ohne Operation werde sie nicht mehr lange leben. Es bestehe bei OP zu 99 % das Risiko der Erblindung und zu 98 % das des Todes. Aber dann verlief zum Glück alles erfolgreich. Der Professor meinte zu mir: „Jetzt sage ich Ihnen etwas, Frau Nachtmann. Die Katharina war die Herausforderung meines Lebens.” Er hatte dabei Tränen in den Augen.
Am nächsten Tag fragte er mich: „Woher haben Sie nur die Kraft genommen, Frau Nachtmann?” Ich antwortete darauf: „Ich weiß es nicht. Ich habe einfach ein ausgesprochen positives Denken.” Zufällig habe ich einen Produzenten kennengelernt und der wollte unbedingt, dass ich die Geschichte aufschreibe. Für den war das so haarsträubend, dass er es nicht verstehen konnte. Erst wollte ich nicht. Er hat mich immer wieder angesprochen. Schließlich musste ich wegen eines Bandscheibenvorfalls eine Reha machen. Dort habe ich es dann in der therapiefreien Zeit geschrieben. Ich brauchte dafür keine Notizen etc. Ich hatte absolut alles im Kopf.
Auf Anregung eines befreundeten Anwalts haben wir auch Klage eingereicht. Es hieß dann, dass nicht die Ärzte verantwortlich sind, sondern die Klinik. Da habe ich gesagt: „Dann verklagen wir die Klinik.” Mein Mann meinte darauf: „Bist Du denn jetzt völlig verrückt geworden?” Meine Antwort: „Wer hat das denn durchlebt, erlebt und überlebt? Die Katharina und ich. Ich mache das, um Eltern, Verwandten, Freunden, Lehrern und Medizinern zu zeigen, dass ein Kind nicht so vehement lügen kann. Wenn ein Kind nicht Radfahren kann, nicht Schlittenfahren kann, nicht Schwimmengehen kann ... das sind doch alles Sachen, die Kinder machen wollen ... So was kann man nicht erfinden. Deswegen mache ich das. Um bornierte Menschen wachzurütteln.” Ich wurde ja vor der richtigen Diagnose, sogar von meinem engsten Umfeld, als irre dargestellt. Als Mensch, der will, dass sein Kind krank ist.
Die Klage wurde aber abgewiesen. Dann habe ich zu meinem Mann gesagt: „Wem unterliegt denn die Klinik? Dem Freistaat Bayern.” Darauf ist er hochgegangen wie eine Fontäne und sagte: „Das wird Dir hoffentlich nicht einfallen ... , dass Du den Freistaat verklagst.” Ich habe gesagt: „Genau das mache ich.”
Die Endokrinologie war in der gleichen Etage. Und diese Ärzte waren nicht in der Lage, uns eine Tür weiterzuschicken und zu sagen: „Schauen Sie sich doch das Mädchen mal an.” Dafür waren sie sich zu stolz. Ein Krankenhaus-Pförtner hat uns darauf gebracht, dass wir selbstständig zur endokrinologischen Abteilung gingen.
Die Klage ging durch, aber es gab einen langwierigen Streit um das Gutachten, das uns recht gab. Gleiches gilt für zwei weitere Gutachten, die erstellt werden mussten. Die Folgeschäden wären bei einem frühzeitigeren Erkennen sicher nicht so gravierend gewesen. Meine Tochter entwickelte auch noch einen Diabetes insipidus infolge der Operation. Nachdem der komplette Hypophysenvorderlappen und der Hypophysenstiel entfernt werden mussten, muss Katharina diverse Hormone substituieren.
Wir einigten uns schließlich auf einen Vergleich, wobei es mir ohnehin weniger um Geld ging. Wir bekamen 42.000 DM. Wir haben Katharina dafür eine Wohnung eingerichtet nach ihren Bedürfnissen. Sie hat ja Gesichtsfeldeinschränkungen.
Interview: Christian Schulze Kalthoff
GLANDULA: Wie originalgetreu ist die Verfilmung?
Angelika Nachtmann: Das Buch ist zu 100 Prozent originalgetreu und autobiografisch. Beim Film gab es gewisse Änderungen aufgrund von künstlerischer Freiheit und zur dramaturgischen Verdichtung. Die Rolle meines Mannes wurde etwas beschönigt. Er ist mittlerweile an einer schweren Krankheit verstorben. Das war wohl auch ein Grund, dass man ihn nicht zu negativ darstellen wollte. Aber grundsätzlich ist der Film schon originalgetreu.
GLANDULA: Waren Sie beim Dreh miteingebunden?
Angelika Nachtmann: Es war geplant, dass ich am Set dabei bin. Dann fingen die Dreharbeiten an. Mein Produzent sagte zu mir: „Ich will Dir nicht zu nahetreten, aber ich glaube, es ist besser, wenn Du nicht dabei bist. Ich will nicht, dass sich die Hauptdarstellerin zu sehr mit Dir identifiziert. Wir haben es so gedacht, dass sich der Regisseur mit Dir unterhält, sich ein Bild von Dir macht und das der Hauptdarstellerin so wiedergibt.” Ich habe mich ausführlich mit ihm unterhalten. Ich bin ja auch in meiner Körpersprache sehr intensiv und spielte ihm einige Szenen vor.
Und es ist bombastisch, wie Steinbichler das gemacht hat. Ich war nur einmal dabei, beim letzten Dreh. Und da war ich mehr oder weniger Komparsin. Rosalie Thomass hat das 1:1 gespielt. Es hätte eigentlich keine bessere Wahl geben können.
GLANDULA: Und sind Sie mit dem Film insgesamt zufrieden?
Angelika Nachtmann: Ja. Es gab ein paar Kleinigkeiten, die mir nicht gepasst haben, etwa die Darstellung, dass ich nach New York geflogen bin. Aber da hieß es dann, das sei künstlerische Freiheit. Oder dass ich zu meiner Schwiegermutter im Film „Du Hex!” gesagt habe. Das habe ich nie gesagt, aber ich hab’s mir 10.000-mal gedacht. Gepasst hat mir auch nicht die Darstellung, dass ich die Unterschrift meines Mannes für den Kredit gefälscht habe. Das habe ich nie getan. Aber ich habe mit diesen Änderungen leben können.
GLANDULA: Wie ging es nach dem Ende der Schilderungen des Buchs und des Films weiter?
Angelika Nachtmann: Unsere Endokrinologin hat sich nicht getraut, das Hydrocortison runterzusetzen. Meine Tochter kam in ihre Schuhe nicht mehr rein und konnte nicht mehr schreiben.
Katharina konnte trotz der Einschränkungen einen Führerschein machen. Sie hat ein Auto mit jeweils zwei Spiegeln. Wir haben dann schweren Herzens gewechselt. Der neue Endokrinologe hat sich getraut. Er hat gesagt: „Wenn wir engmaschig zusammenarbeiten, ist das möglich.” Er hat das Hydrocortison dann ganz langsam runterreduziert. Ihr Gewicht hat sich stabilisiert und normalisiert.
Meine Tochter wollte dann ein Kind. Sie hat von ihrer Kindheit so wenig gehabt und wollte das wohl auch in dieser Form nacherleben. Die Geburt war äußerst beschwerlich. Grund war letztlich wieder, dass Ärzte und Pflegepersonal keinerlei endokrinologische Kompetenz hatten und auch zunächst keine Ratschläge annehmen wollten. Doch das Kind kam gesund zur Welt und ist für meine Tochter alles.
Dass Katharina geheilt ist, wie es am Ende im Film hieß, ist etwas vereinfacht dargestellt. Sie bezieht derzeit Erwerbsminderungsrente. Sie ist auf die Hydrocortisonsubstitution angewiesen und hat Gesichtsfeldeinschränkungen. Sie ist körperlich nicht so belastbar wie andere und bekommt auch ab und zu Migräneattacken.
Aber sie kann Auto fahren, sie kann alles essen und sie ist motiviert. Sie lacht viel und sie ist sehr positiv. Man muss mit dem jetzigen Ergebnis zufrieden sein. Sie ist mit ihrem Sohn und mit ihrem Mann eine glückliche und zufriedene Frau.
GLANDULA: Wie haben Sie die Resonanz auf Buch und Film erlebt?
Angelika Nachtmann: Nachdem der Film in die Kinos kam, war die Resonanz enorm. Ich bekam über 700 E-Mails. Aber von meinem damaligen Umfeld gab es nicht einen, der gesagt hätte: „Es tut mir leid, dass wir Dir damals nicht geholfen haben.” Das Urteil, in dem von „groben Diagnosefehlern” die Rede ist, hat Katharina kopiert. Sie hat es an sämtliche damaligen Ärzte und Lehrer mit dem Zusatz „Ohne Worte” verteilt. Es gab keinerlei Reaktion.
GLANDULA: Wie könnte man es Ihrer Ansicht nach verhindern, dass bei seltenen Erkrankungen oft lange Zeit falsch diagnostiziert wird?
Angelika Nachtmann: Indem man sich schlaumacht und in sich hineinhorcht und nicht gleich auf vorschnelle Einschätzungen vertraut. Man sollte positiv denken. Wenn der Arzt nicht weiterweiß und sich nicht die Mühe macht, der wahren Ursache auf den Grund zu gehen, sollte man einfach zu einem anderen gehen.
GLANDULA: Sie hatten in der Kindheit schweren sexuellen Missbrauch erlebt, was auch im Film und im Buch thematisiert wird. Glauben Sie, dass Sie auch dadurch mehr Verständnis für Ihre Tochter gehabt haben?
Angelika Nachtmann: Das war im Alter von neun Jahren. Der Täter war ein scheinbar netter junger Mann aus der Nachbarschaft, wo ich damals meine Sommerferien verbrachte. Ich habe danach nichts zu Weihnachten, nichts zu Ostern und nichts zum Geburtstag bekommen, weil ich angeblich so lüge. Ich wurde von allen geschnitten und angefeindet. Aus dieser Zeit habe ich noch heute eine Stelle am Kopf mit wenig Haaren, weil mir meine Mutter dort die Haare mit der Kopfhaut ausgerissen hat.
Ich kann mich noch erinnern, dass der Richter gesagt hat: „Ihr seid alle Pharisäer.” Auch da hat sich bis heute keiner entschuldigt.
Manche, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, gehen dann genau in die gleiche Richtung und fügen anderen Schmerzen zu. Oder sie landen in der Prostitution. All das war bei mir nicht der Fall. Ich glaube schon, dass mich das sehr sensibilisiert hat.
GLANDULA: Was halten Sie von der Selbsthilfe?
Angelika Nachtmann: Ich finde das super. Man kann sich mit Gleichgesinnten austauschen. Nur Menschen, die das gleiche er-, durch- und überlebt haben, können mitempfinden. Die verstehen auch die Emotionen, die man hat.
Leute, die mich anschreiben, weil etwa ihr Kind krank ist, denen gebe ich genau solche Adressen wie die des Netzwerks, damit sie sich dort Hilfe und Informationen holen können.
GLANDULA: Frau Nachtmann, herzlichen Dank für das Gespräch.