Lebensqualität und Hypophysenerkrankungen
In den letzten Jahren hört man immer wieder das Wort „Lebensqualität” im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen. Was bedeutet dieser Begriff eigentlich in der Medizin? Wie kann man Lebensqualität messen und wie sieht es mit der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Menschen mit Hypophysenerkrankungen aus? Diesen Fragen soll der folgende Beitrag nachgehen.
Viele Hypophysenerkrankungen sind chronische Erkrankungen, die einer regelmäßigen Behandlung und Nachsorge bedürfen. Insbesondere betrifft dies Erkrankungen, die einhergehen mit einem Überschuss an Hormonen, die den Körper wesentlich verändern, wie zum Beispiel der Morbus Cushing und die Akromegalie, oder mit einer schweren hormonellen Unterfunktion, z. B. der Cortison-Hormonachse. Bei Menschen mit solchen Störungen ist die Lebensqualität oftmals dauerhaft beeinträchtigt, selbst wenn es gelingt, den Hormonüberschuss oder -mangel durch Therapien auszugleichen. Der Umstand, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen Einschränkungen in diesem Bereich haben, hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend Beachtung in der Medizin gefunden. Die Verbesserung der Lebensqualität ist inzwischen ein wichtiges und akzeptiertes Erfolgskriterium für die Bewertung von Therapien geworden. Sowohl für den Arzt als auch für den betroffenen Patienten ist es daher wichtig, sich mit dieser Thematik bei Hypophysenerkrankungen auseinanderzusetzen, um Wege zu eröffnen, die zu einer besseren Lebensqualität trotz gesundheitlicher Einschränkungen führen.
Was ist die gesundheitsbezogene Lebensqualität?
Der Vater des Wortes „Lebensqualität” ist der englische Ökonom Artur Cecil Pigou, der in seinem Buch „The Economics of Welfare” als Erster von der „quality of life” sprach (1). Im Jahr 1948 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation dann eine Definition von Gesundheit und beschrieb diese nicht nur als „Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen”, sondern erweiterte sie um den Begriff von „komplettem körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefinden” (2). Auch wenn in dieser Definition das Wort Lebensqualität nicht vorkommt, beinhaltet sie Aspekte dessen, was wir heute darunter verstehen.
Populär wurde der Begriff wieder in den 70er Jahren in den Sozialwissenschaften, der Politik, aber auch der Medizin. Durch die Zunahme chronischer, aber oft nicht lebensbedrohlicher Erkrankungen in den Industrienationen wurde der Nutzen traditioneller medizinischer Kriterien zur ausschließlichen Bewertung von Therapien angezweifelt und man suchte nach zusätzlichen Bewertungsmaßstäben (3).
Um eine Abgrenzung vom Begriff der allgemeinen Lebensqualität zu ziehen, wurde in den 80er Jahren zusätzlich der Begriff der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (health-related quality of life) eingeführt (4). Sie stellt die subjektive Qualität der körperlichen, psychischen und sozialen Aspekte von Gesundheit dar (5). Das Wort subjektiv bedeutet, dass in die Bewertung dieser Aspekte von Gesundheit die Erfahrungen, Erwartungen, Einstellungen und die Wahrnehmung der einzelnen Person eingehen. Der Begriff der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wurde später um den Aspekt der Funktionsfähigkeit erweitert, also der Fähigkeit individuelle Zielsetzungen, Rollen und Anforderungen zu erfüllen (6).
Wie wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität messbar?
Die gesundheitsbezogene Lebensqualität hat also verschiedene Dimensionen wie körperliche Gesundheit, psychische Gesundheit und die Fähigkeit, soziale Rollen zu erfüllen, und sie ist subjektiv, kann also nur vom Betroffenen selbst beurteilt werden. Um sie als Bewertungskriterium für Therapien geeignet zu machen, muss man sie aber messbar machen. Dies geschieht mittels Interviews oder Fragebogenverfahren. Bei den Fragebogenverfahren wird zwischen allgemeingültigen (= generischen) Verfahren, die bei jeder Erkrankung angewendet werden können, und krankheitsspezifischen Messinstrumenten, die spezifische gesundheitliche Beeinträchtigungen bei einer bestimmten Erkrankung berücksichtigen, wie z. B. der ACROQOL für Patienten mit Akromegalie (7) oder der Cushing-QOL für Patienten mit Morbus Cushing, unterschieden (8). Der SF-36 (Short-Form 36) ist einer der bekanntesten krankheitsübergreifenden, generischen Fragebögen mit 36 Fragen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die sich in die Bereiche der körperlichen und psychischen Gesundheit einordnen lassen, aber auch Aspekte wie Schmerzen, allgemeine Gesundheitswahrnehmung und Vitalität abbilden (9).
Lebensqualität von Patienten mit Akromegalie und Morbus Cushing
Es besteht Einigkeit darüber, dass sowohl die Akromegalie als auch der Morbus Cushing nicht als Krankheiten gesehen werden können, die mittels chirurgischer, medikamentöser und/oder strahlentherapeutischer Methoden leicht geheilt werden. Sie stellen vielmehr komplexe chronische Erkrankungen dar, die viele Facetten des Alltagslebens und seiner Qualität beeinträchtigen.
In Bezug auf die Akromegalie konnte durch viele Studien nachgewiesen werden, dass die Betroffenen eine beeinträchtigte gesundheitsbezogene Lebensqualität haben (siehe Abbildung 1), dies sowohl in der Phase der aktiven Erkrankung als auch nachdem der Hormonüberschuss mittels Operation, Medikamenten und/ oder einer Strahlentherapie geheilt wurde (für eine Übersicht siehe (10)). Mittels statistischer Berechnungen konnten die Arbeiten belegen, dass folgende Faktoren zu Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Patienten mit Akromegalie führen können: eine späte Diagnosestellung der Erkrankung, das Vorhandensein von Kopf- und Gelenkschmerzen, weibliches Geschlecht, Übergewicht, Vorhandensein eines Diabetes mellitus, eine im Rahmen der Behandlung der Akromegalie durchgeführte Strahlenbehandlung, Arbeitslosigkeit und eine nicht geheilte Erkrankung (11-14). Studien haben weiterhin bestätigt, dass auch die durch die Erkrankung verursachten, sichtbaren körperlichen Veränderungen, wie die veränderten Gesichtszüge, zu einer Einschränkung in der Lebensqualität führen können (15).
Anders als bei der Akromegalie führt beim Morbus Cushing die Heilung der Erkrankung durch die Hypophysenoperation, gegebenenfalls in Kombination mit medikamentösen Maßnahmen und anderen Therapien, zu einer raschen Normalisierung vieler klinischer Symptome. Jedoch bleibt die Lebensqualität bei vielen Patienten mit dieser Erkrankung noch Jahre nach der Normalisierung des Cortisolüberschusses beeinträchtigt (siehe Abbildung 1) (17-19). Bei Menschen mit Morbus Cushing oder dem Cushing-Syndrom1 konnten Studien belegen, dass folgende Faktoren zu Einschränkungen der Lebensqualität führen: die zeitliche Latenz, das heißt Verborgenheit der Erkrankung bis zur Diagnosestellung, eine durchgeführte Radiotherapie, eine nach der Behandlung des Morbus Cushing aufgetretene Hypophyseninsuffizienz, Übergewicht, weibliches Geschlecht, ein höheres Lebensalter und ein Fortbestehen des Cortisolüberschusses unter der Therapie (8, 16, 17, 20, 21). Unsere Arbeitsgruppe konnte in einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung zusätzlich zeigen, dass eine schlechte Krankheitsbewältigung einen erheblichen negativen Einfluss auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität ausübt (16). Abbildung 2 auf der nächsten Seite zeigt, in welchen Bereichen die Lebensqualität von Patienten mit Akromegalie und Morbus Cushing besonders beeinträchtigt ist.
Lebensqualität bei Patienten mit Prolaktinomen
Im Gegensatz zu allen anderen Adenomen (gutartige Gewebetumoren) der Hypophyse ist bei Prolaktinomen die Therapie der ersten Wahl nicht operativ, sondern medikamentös. Beim gesunden Menschen wird die Hormonausschüttung aus der Hirnanhangsdrüse durch den Botenstoff Dopamin gehemmt. Dem Dopamin verwandte Medikamente können daher nicht nur die Prolaktinausschüttung aus dem Prolaktinom hemmen, sondern sie sind auch in der Lage, das Adenom deutlich schrumpfen zu lassen.
Der unbehandelte Prolaktinüberschuss geht vor allem mit einer Hemmung der Geschlechtshormonachse einher. Die Hemmung der Hormonachse kann jedoch durch die Therapie aufgehoben werden.
Dieser Vorgang wird vom Endokrinologen über Blutuntersuchungen überwacht. Heutzutage werden meist moderne dopaminartige Medikamente eingesetzt, die eine längere Wirkdauer und weniger Nebenwirkungen als die alten dopaminartigen Medikamente haben. Passend hierzu zeigten Lebensqualitätsuntersuchungen bei Patientinnen mit Prolaktinomen, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei unbehandelter Erkrankung, das heißt hohen Prolaktinspiegeln und Störungen der Fortpflanzungsfähigkeit schlechter ist als bei Patientinnen mit behandelter Erkrankung. Die Therapie mit dopaminartigen Medikamenten selbst hatte nur in einer Studie einen negativen Einfluss auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität, während dieses Ergebnis in zwei anderen Studien nicht bestätigt wurde (für eine Übersicht siehe (23)).
Lebensqualität bei Patienten mit hormoninaktiven Hypophysenadenomen
Die Lebensqualität bei Patienten mit hormoninaktiven Tumoren der Hirnanhangsdrüse ist oft nicht dauerhaft beeinträchtigt, insbesondere dann, wenn der Tumor durch eine Operation entfernt werden konnte und die Funktion der gesunden Hirnanhangsdrüse unbeeinträchtigt ist. Ein kürzlich erschienener Übersichtsartikel fasst die Datenlage aus 14 Studien mit insgesamt 2708 Patienten zusammen. Zwei Studien davon zeigten eine im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen verminderte Lebensqualität bei Patienten mit hormoninaktiven Hypophysenadenomen auf, insbesondere in der Phase der aktiven Erkrankung. Andere Arbeiten konnten jedoch keinen Unterschied zwischen behandelten Patienten mit hormoninaktiven Hypophysenadenomen und der gesunden Kontrollgruppe nachweisen (23). Eine weitere Studie zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Patienten mit hormoninaktiven Hypophysenadenomen kam zu dem Ergebnis, dass die Lebensqualität dieser Patienten im mittel- bis langfristigen Verlauf fast normal bis normal war (24). Allerdings kann eine Störung der Funktion der Hirnanhangsdrüse (Hypophyseninsuffizienz), hervorgerufen durch den Hypophysentumor selbst oder seine Behandlung, auch trotz guter Substitutionstherapie mit einer bleibenden Einschränkung der Lebensqualität verbunden sein (25).
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Hypophysenadenomen, insbesondere bei Patienten mit Akromegalie und Morbus Cushing, auch bei kontrollierter Erkrankung dauerhaft beeinträchtigt sein kann. Manche Erkrankungsfolgen, wie veränderte Gesichtszüge oder Gelenkverschleiß bei Patienten mit Akromegalie, können leider oft nur bedingt durch Therapien beeinflusst werden. Es ist eine Aufgabe des Behandlers, dem Patienten Möglichkeiten der Verbesserung seiner Lebensqualität aufzuzeigen und gegebenenfalls entsprechende therapeutische Schritte einzuleiten. Die Lebensqualitätsforschung hat aber auch gezeigt, dass Patienten selbst die Möglichkeit haben, auf ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität Einfluss zu nehmen, z. B. durch die Anwendung positiver Strategien der Krankheitsbewältigung.
Die Krankheitsbewältigung ist ein Verhalten, das veränderbar ist. Positive Bewältigungsstrategien können erlernt oder verstärkt werden. Derzeit gibt es zwar noch keine Programme, die speziell auf Patienten mit Hypophysenerkrankungen zugeschnitten sind, die meisten hilfreichen Bewältigungsstrategien sind aber universell einsetzbar. Zum Beispiel kann es hilfreich sein, Hindernisse als positiv und überwindbar anzusehen, die Erkrankung zu akzeptieren, Unterstützung von Freunden und Familie anzunehmen und über die Erkrankung zu reden. Abbildung 3 zeigt eine Übersicht über Bewältigungsstrategien, die sich in einer Studie als hilfreich bzw. weniger hilfreich für die Mehrzahl der Patienten mit Morbus Cushing herausgestellt haben. Dies sind allerdings nur Durchschnittswerte. Da jeder Mensch anders ist, muss auch jeder für sich die Strategien erkennen, die ihm persönlich am meisten helfen. Eine psychologische Beratung kann dabei hilfreich sein, um zu reflektieren, welche Bewältigungsstrategien von einem Menschen bisher genutzt werden und, falls erforderlich, positivere Strategien zu entwickeln und zu trainieren. Dies kann einen Weg darstellen, sich selbst als Patient ein Stück Lebensqualität zurückzugewinnen – trotz krankheitsbedingter Einschränkungen.
Prof. Dr. med. Ilonka Kreitschmann-Andermahr
Leitung Neurochirurgische Ambulanz
Universitätsklinikum Essen (AöR)
Klinik für Neurochirurgie
Hufelandstraße 55
D-45147 Essen